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INTERVIEW

3DP&Me: "Additive Fertigung zu implementieren bedeutet eher einen kulturellen als einen technologischen Wandel"

Ein Interview mit Jeremy Pullin, Leiter der Additiven Fertigung bei Sartorius, einem führenden Anbieter von Anlagen und Dienstleistungen für die Biotech-Industrie.

Willkommen, Herr Pullin. Bevor wir in Ihre Arbeit eintauchen, erzählen Sie uns ein wenig über sich selbst und Ihren bisherigen Weg mit der additiven Fertigung.

Sehr gerne. Also, ich bin Jeremy Pullin. Ich bin Leiter der Additiven Fertigung bei Sartorius und kam 2016 zum Unternehmen. Davor war ich bei Renishaw. Ich habe den 3D-Druck bei Renishaw um 2002 oder 2003 eingeführt, angefangen mit einer kleinen Stratasys Dimension und von dort aus weitergemacht. 

Im Jahr 2015 beschloss Sartorius unter der Leitung des CEO, sich mit additiver Fertigung zu befassen. Ziel war es, festzustellen, was es damit auf sich hat und die Relevanz für die eigenen Aktivitäten zu bewerten. Der CTO stellte ein Forschungsteam zusammen, und nachdem klar wurde, dass die additive Fertigung ernsthaft in Frage kam, stellten sie mich als Branchenexperten ein. Seitdem haben wir nicht nur die Anzahl der Drucker, sondern auch die Art der von uns verwendeten AM-Technologien radikal erhöht. Die Zahl der Sartorius-Standorte, die additive Fertigung nutzen, ist von anfänglich 4 auf 13 gestiegen und wächst weiter.

Sie sind nicht nur der Leiter der Additiven Fertigung. Sie sind verantwortlich für die 'Sartorius Additive Manufacturing Group'. Worum handelt es sich dabei, und wann wurde diese Gruppe gegründet?

Die Sartorius Additive Manufacturing Group wurde im Jahr 2016 gegründet. Es handelt sich um eine Gruppe von Spezialisten für additive Fertigungstechnologien, darunter Designer, Wissenschaftler, Techniker, Forscher und Ingenieure für die Industrialisierung. Die Rolle der Gruppe ist vielfältig. Wir bilden Menschen im gesamten Konzern weiter und validieren Materialien. Aber unser wichtigstes Ziel ist immer das gleiche geblieben: Wir möchten sicherstellen, dass Sartorius den maximalen Nutzen aus dem vielfältigen Potenzial der additiven Fertigung zieht. Dies bedeutet nicht, dass wir AM so oft wie möglich einsetzen. Sondern wir erweitern den Bereich der möglichen Anwendungen, für die es sinnvoll ist.

Sie sind ein Teil der Biotech-Industrie – wie passt Sartorius da hinein?

Sartorius ist ein Anbieter von Geräten, Verbrauchsmaterialien und Dienstleistungen, die Pharmaunternehmen für die Herstellung von Biologika benötigen. Unser Unternehmen begann mit der Herstellung von Präzisions-Laborwaagen und entwickelte sich von dort aus weiter. Das Unternehmen selbst ist rund 150 Jahre alt. Es gibt uns also schon sehr lange, und wir sind in den letzten zehn Jahren stark gewachsen.

Manchmal sehen wir uns selbst an und denken, dass wir ein großes Unternehmen geworden sind, bis wir uns einige unserer Kunden ansehen – wie GSK, GE Healthcare, Johnson & Johnson und so weiter – und feststellen, dass unsere Mitarbeiterzahl wahrscheinlich nicht einmal deren Kantine füllen würde!

Wie sieht es in der Biotechnologiebranche im Vergleich zu anderen Branchen mit der Einführung der additiven Fertigung aus?

Es ist schon komisch, denn traditionell nimmt man die additive Fertigung als Technologie für die Luft- und Raumfahrt und die Automobilbranche wahr. Da wird dann gesagt: "Wir müssen uns auf die Luft- und Raumfahrt und die Automobilindustrie konzentrieren, weil das sehr große Unternehmen sind." Aber wenn man sich die Größe einiger unserer Kunden anschaut, dann haben einige von ihnen einen Umsatz von 40 oder 50 Milliarden US-Dollar pro Jahr.

Es stimmt allerdings, dass die Biotech-Branche in Bezug auf die additive Fertigung spät dran ist und der Luft- und Raumfahrt sowie der Automobilindustrie um Jahre hinterherhinkt. Aber in Bezug auf den Umfang oder die rechtlichen Anforderungen sind sie sehr ähnlich.

Bei so vielen Vorschriften, die es zu beachten gilt, muss es eine Herausforderung sein, neue Technologien oder Fertigungsstrategien einzuführen?

Aus technischer Sicht kann das sehr frustrierend sein. Man versucht, die GMP-Regeln (Good Manufacturing Practice) zu befolgen, z. B. bei der Konfiguration von Bioreaktoren, von denen wir wissen, dass wir sie verbessern und effizienter machen können. Aber die Antwort lautet: "Nein, nein, Ihr dürft das nicht verändern! Das, was wir haben, funktioniert. Und genau so müssen wir es weiterhin machen. Wir dürfen nicht ändern, was funktioniert!"

Aber so läuft das eben. Und letztendlich sind wir immer, wenn wir einen Impfstoff oder eine Dosis Antibiotika erhalten, froh, dass alles so streng geregelt ist. Denn wenn bei Arzneimitteln etwas schief geht, kann man ja nicht einfach auf den Standstreifen fahren wie mit einem kapputten Auto. Die Folgen sind viel gravierender.

Ist die Branche risikoscheu, oder geht es hier um die notwendigen Investitionen?

Meiner Meinung nach geht es um die Minimierung von Risiken. Selbst die größten Arzneimittelhersteller würden zugeben, dass man ihre Produkte noch verbessern kann. Offensichtlich, denn sie geben ja jedes Jahr Milliarden für Forschung und Entwicklung aus. Ein Teil des Problems ist jedoch, dass immer nur eine Sache auf einmal verbessern werden kann. Und dann gibt es immer auch Leute, die darauf bestehen, dass etwas unmöglich ist. Die sind erst überzeugt, wenn es ihnen physisch vor Augen geführt wird. Und dafür braucht man Zeit.

Außerdem geht es bei Risiken und Vertrauen sofort auch um die menschliche Natur. Auf organisatorischer Ebene ist es eine Änderung der Unternehmenskultur. Es geht also nicht einfach darum, die Technologien im Unternehmen durch neuartige Technologien wie die additive Fertigung auszutauschen. Stattdessen muss man die Unternehmenskultur dahingehend verändern, dass man bereit ist, etwas Neues auszuprobieren, Grenzen zu überschreiten und zu sehen, was der Markt annimmt. Das ist es, worum es wirklich geht: Um kulturellen Wandel und nicht um technologischen Wandel.

Wie bewältigt man eine solche Herausforderung bei Sartorius?

Zunächst gilt der Grundsatz: Additive Fertigung wird nur dann eingesetzt, wenn es wirklich sinnvoll ist. Nichts macht die Glaubwürdigkeit einer Technologie schneller zunichte als eine falsche Anwendung. Nehmen Sie zum Beispiel den Verbrennungsmotor – eine Technologie, die bei uns fest im Alltag verankert ist: Ein V10-Lamborghini-Motor ist fantastisch in einem Audi R8, aber den würden Sie ja auch nicht in einen Ford Escort einbauen. Da werden die Leute zurecht sagen: "Das ist schrecklich! Einmal Zeitung holen fahren und der hat schon sechs Liter Benzin verbraucht!"

Woran erkennen Sie eine Anwendung, bei der die additive Fertigung einen echten Unterschied machen kann?

Zwei Faktoren sind besonders wichtig. Zum einen die Zeit. Wir haben gerade ein Beispiel für ein Bauteil, das kurz vor der Markteinführung steht und das schneller entwickelt werden muss, als es mit den herkömmlichen Technologien möglich wäre. Und zum anderen der Mehrwert. Und wo kann die additive Fertigung Mehrwert schaffen?

Im Fall unserer Spektroskopieschnittstelle gab es zum Beispiel eine besonders anspruchsvolle Geometrie – genau das Richtige für die additive Fertigung, wenn Sie so wollen. Die Funktion des Bauteils und die richtige Geometrie hierfür passten wirklich gut.

Stellt sich die Frage: Wenn jemand eine iPhone-Hülle haben möchte, könnten wir diese dann in 3D drucken? Klar könnten wir. Aber würden wir das auch machen? Auf keinen Fall. Hier stehen so viele andere Technologien zur Verfügung, die in Frage kämen.

Es ist ein weit verbreiteter Irrglaube, dass es bei additiver Fertigung um alles oder nichts geht. Ist Ihnen das in der Vergangenheit so begegnet?

Eine Sache, die ich in meiner beruflichen Laufbahn immer wieder feststelle, ist die Tatsache, dass die Leute denken, wenn man ein Verfechter der additiven Fertigung ist, wird es zu einer Wettbewerbssache – man will, dass die Dinge additiv und nicht traditionell gefertigt werden. Und das stimmt einfach nicht. Additive Fertigung ist keine konkurrierende Technologie und sollte es auch nicht sein – sie ist eine ergänzende Technologie.

Es geht also um die Frage: "Wo liegt der Mehrwert?" Gibt es einen Mehrwert, wenn wir mit additiver Fertigung arbeiten? Nein? OK, dann schauen wir, ob andere Gründe für die additive Fertigung sprechen. Das könnte der Zeitplan oder was auch immer sein – aber im besten Fall ist es eine ergänzende Technologie und keine konkurrierende.

Sartorius selbst ist ein großartiges Beispiel dafür. Erzählen Sie uns ein wenig mehr darüber, wie Sie als Unternehmen an diese Entscheidungen herangehen.

Zunächst müssen Sie sich die Struktur unseres Unternehmens ansehen. Die AM-Gruppe ist unter demselben Dach angesiedelt wie die Gruppen, die sich mit Spritzguss oder thermischer Umformung befassen. Aufgrund dieses Organisationsaufbaus ist fast unvermeidlich, dass wir diese Technologien gegeneinander abwägen.

Unsere Grundeinstellung ist zunächst, dass wir technologieunabhängig sind. Denn wenn Sie sich erstmal auf eine Technologie festgelegt haben, ändert sich der weitere Prozess natürlich. Daher ist es wichtig, diese Entscheidung frühzeitig zu treffen. Wir alle kennen Beispiele, bei denen etwas für eine bestimmte Technologie entwickelt wurde, und man dann zu einer anderen Fertigungstechnologie wechseln möchte. Dann muss man ständig Kompromisse machen.

Wie kann so ein Bewertungsprozess ablaufen?

Abgesehen von den offensichtlichen Faktoren, wie Kosten und Zeit, stellen wir manchmal fest, dass man zurück zur Fragestellung gehen muss, anstatt einfach überstürzt eine Antwort zu finden. Bei der Technologieauswahl passiert dies häufiger.

Wir produzieren zum Beispiel eine Menge Schlauchverbinder, sogenannte Schlaucholiven. Einer vom Spritzguss-Team behauptete, dass man eine Schlaucholive nie in 3D drucken könnte – sie wäre zu rau, hätte zu viele Schichtlinien und würde nie abdichten. Deshalb werden die Spritzgussteile immer poliert, bis sie super, super glatt sind. Also haben wir eine ganze Studie über 3D-gedruckte Schlaucholiven durchgeführt, und wissen Sie was? Die Schlaucholiven dichten recht gut ab, wobei die Oberflächen viel rauer sind als beim Spritzgießen, aber niemand hat diese Annahme jemals in Frage gestellt.

Das Gleiche gilt für den wirtschaftlichen Aspekt. Man hört oft, dass man nach drei Jahren mit Spritzguss besser fährt als mit additiver Fertigung. Aber man muss auch fragen, welche Kosten dabei berücksichtigt werden. Wie sieht es mit den Gesamtbetriebskosten für das Werkzeug aus, wenn Wartung, Lagerung, Spezialausrüstung, Leasing usw. berücksichtig werden? Und was ist mit den Qualifizierungskosten? Nur wenn man sich traut, die Fragestellung selbst in Frage zu stellen, findet man andere Antworten. Und genau das tun wir.

Wie wichtig ist es für Unternehmen, diese Art von Wissen über additive Fertigung und andere Technologien im Haus zu haben?

Nun, ein Teil unserer Aufgabe als Additive Manufacturing Group innerhalb von Sartorius ist es, die Menschen im Unternehmen zu schulen. Wir können also Wissenschaftler, Produktentwickler, Marketingfachleute, die Personalabteilung oder jeden, der mit uns sprechen möchte, weiterbilden. Menschen kann man nur durch umfassende Aufklärung in die Lage versetzen, die Chancen zu erkennen. Aber es geht auch um Erwartungsmanagement.

Wenn Sie sich nur auf das Wissen Ihrer Lieferanten verlassen, verlangen Sie ständig Dinge von ihnen, die gar nicht möglich sind: "Oh, ich habe aber in einer Zeitschrift gelesen, dass man alles drucken kann." Das Erkennen von Chancen und das Erwartungsmanagement sind also Dinge, die intern gehandhabt werden müssen, bevor man überhaupt an die Lieferanten herantritt. Hier geht es um eine Partnerschaft, bei der beide Seiten ein gewisses Maß an Wissen in den Entscheidungsprozess einfließen lassen müssen.


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Ein Foto von Jeremy Pullin, Leiter der Additiven Fertigung bei Sartorius.

Biografie

Jeremy Pullin

Jeremy begegnete dem 3D-Druck zum ersten Mal 1995 und beschäftigte sich 2002 aktiv mit additiven Fertigungstechnologien, als er für Renishaw PLC arbeitete. Anschließend baute er das Rapid Manufacturing Centre auf, eine Abteilung, die er 12 Jahre lang leitete und weiterentwickelte, bevor er 2016 Renishaw verließ, um zum Biotechnologieunternehmen Sartorius Stedim zu wechseln. Derzeit ist er Leiter der Additiven Fertigung und verantwortlich für die globale AM-Strategie innerhalb der Gruppe.


Im Jahr 2012 wurde Jeremy in die TCT-Liste der 25 einflussreichsten Personen in der Welt der additiven Fertigung gewählt und erhielt 2019 eine DINO-Auszeichnung (Distinguished Innovator Operator) von der AMUG (Additive Manufacturing User Group) in den USA. Er ist Mitglied des Redaktionsbeirats für die AM-Publikationen der Rapid News Group in Europa und Nordamerika und gehört dem Organisationskomitee der britischen AM-Nutzergruppe an.

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